Familienaufstellung
„Bildung“ lässt sich als Versuch verstehen, gesellschaftliche Prozesse, wie Karriere, soziale Mobilität und andere, mit individuellen Erfahrungen zu versöhnen. Jan Roß hat mit „Bildung. Eine Anleitung“ ein Buch vorgelegt, das man „als Einladung und Anleitung“1 verstehen müsse. Die Einladung und Anleitung, „das sogenannte kulturelle Erbe in Besitz zu nehmen“ (RB, 12), das für Roß‘ Bildungsverständnis elementar ist, soll dazu führen, sich in Aneignung dieses kulturellen Erbes‘ „als wirkliche Erben“ (RB, ebd.) zu fühlen.
Für Jan Roß ist Bildung also Reproduktion. Das Narrativ ‚Erbe‘, das er anführt, verspricht einen Traditionszusammenhang der Generationen. Die Stabilität der sozialen Ordnung wird aber gerade durch Bildung volatil, wie ein Blick in die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung deutlich macht. Jutta Allmendinger hat den gesellschaftlichen Prozess, der Bildung auch ist, als „statuserzeugend“2 beschrieben. Einer Metamorphose der Person durch Bildung folgt zwangsläufig eine soziale Anamorphose, d. h. eine Veränderung des Status und der gesellschaftlichen Position. In der Literatur ist immer wieder versucht worden, dies stets prekäre Verhältnis zwischen individueller Metamorphose und sozialer Anamorphose durch den Bildungsroman zu versöhnen. In dieser Gattung geht es um das Gelingen einer durch Bildung induzierten Persönlichkeitsveränderung. Bildungsgeschichten, so kann man daher sagen, haben immer etwas mit Verweigerung von kultureller, familiärer und sozialer Reproduktion zu tun.
Davon weiß Jan Roß‘ Anleitung nichts. Für ihn sind Bildungsgeschichten wunderbare Geschichten von biographischer Kohärenz und bildungsbürgerlicher Familienidylle. So berichtet Jan Roß, dass er als „Frühjugendlicher“ (RB, 27) mit seinen Eltern die Akropolis besucht habe. Das ist an sich nicht schlimm, jeder von uns kennt den Kulturterror, den Eltern auszuüben in der Lage sind, wenn sie bildungsbeflissen andere Länder mit ihren Kindern bereisen. Aber bei Roß geht es nicht um die unterschiedlichen Wahrnehmungen des kulturellen Erbes (die schöne Athene wirkt normalerweise auf pubertierende Jugendliche männlichen Geschlechts anders als auf ihre Eltern), sondern um den „Schwächeanfall“ (RB, ebd.) seines Vaters, der „mattgesetzt von der Schönheit der Ruinen“ (ebd.) wohl in jenen Schwindel geraten ist, der seit Kant mit dem Erhabenen in Zusammenhang steht. Dieser durch Ehrfurcht gekennzeichnete Dialog der Generationen ist typisch für Roß‘ Blindheit gegenüber Bildungsdynamiken, die keine Kohäsion stiften, sondern zwischen Innovation und Tradition, Fortschritt und Beharrung oszillieren.
Das Narrativ der ‚Erbes‘, das die Generationen miteinander verschaltet, wird auch deutlich, wenn Jan Roß sich vor seinem „Tübinger Lehrer Walter Jens“ (RB, 44) verneigt. Hier wird die Produktion familiärer Ergriffenheit auf die akademische Sphäre ausgeweitet: Gesucht wird nun ein weiterer Vater, der einen Weg über die Familienaufstellung der Altphilologie weisen kann. Auch in vielen anderen Binnengeschichten wird das Motiv der gelingenden Übergabe vom Bildungsgütern variiert und verklärt: Mit Besuchen mit seinen Söhnen bei Meistern der bildenden Kunst, mit dem Vater, der auf die „Sternenleidenschaft“ des Sohnes (RB, 127) mit dem Gang in die Bibliothek reagiert, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ herauszieht und dem Sternengucker die berühmte Schlusspassage vorliest: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“3
All dies sind idyllische Familienaufstellungen, die von der Dramatik der verweigerten oder gestörten Bildungsreproduktion nichts wissen wollen. Dabei gäbe es ja reichlich Material auch im klassischen Kanon: Man denke an den Kaufmannssohn Wilhelm Meister, der sich der Karriere im Kontor verweigert, um Schauspieler zu werden, dessen Wunsch, „mich so auszubilden, wie ich bin“4 in der Langeweile der bürgerlichen Ehe und in den Fängen der Turmgesellschaft endet, oder an Thomas Manns Erzählung „Tonio Kröger“, in der der Held es zunächst als „als ausschweifend und eigentlich ungehörig“5 empfindet, sich der familialen Reproduktion durchs Dichter-Werden zu verweigern. Oder auch an die zahlreichen Bildungsaufsteiger und Klassenwechsler in der Gegenwartsliteratur.
Der französische Soziologe und Foucault-Biograph Didier Eribon erzählt in seinen „Autosoziobiografi[en]“6 „Rückkehr nach Reims“ und „Gesellschaft als Urteil“ vom Bildungsaufstieg als „Klassenflucht“7. Im Prozess einer „Selbstwiederaneignung“8, die vor allem ein Schreiben ist, wird diese fundamentale Entfremdung rekonstruiert. Literatur wäre dann der Ort, an dem die individuellen Kosten des Bildungsaufstiegs reflektiert würden. Die durch Bildung entstehende „Zersplitterung des Selbst“9 führt zu einer Unerkennbarkeit der Person, für sich selbst und für andere. Genau das erlebt auch Elena Greco, neben Raffaela Cerullo die Heldin der Neapel-Tetralogie von Elena Ferrante. Im dritten Band, „Die Geschichte der getrennten Wege“, heiratet Greco Pietro Airota, den Spross einer alteingessenen Mailänder Familie. Ferrantes Tetralogie ist die Reflexion einer doppelten Entfremdung, einer Entfremdung von ihrer Herkunft im Rione durch Bildung, aber auch ein fundamentales Fremd-Sein in der neuen Umgebung trotz Bildung. „Wahrscheinlich“, heißt es im Text, „betrachteten mich die Airotas, besonders Guido, aber vielleicht auch Adele, als ein Mädchen, das zwar strebsam, aber ganz anders war als das, was sie sich für ihren Sohn gewünscht hatten.“10 Der Makel der Arrivistin, den unbedingten Aufstiegswillen, den Elena an sich selbst festgestellt hat, lässt für sie deutlich hervortreten, dass „meine Herkunft, mein Dialekt, mein gesamter Mangel an Eleganz“11 Prägungen sind, die sie im Laufe ihrer Karriere nicht los wird. Die „Ahnungslosigkeit“12 der Arrivistin gegenüber den Mechanismen sozialer Reproduktion lässt sie angesichts ihres „Ehrgeiz[es]“13, so sein zu wollen wie die mit Selbst- und Parkettsicherheit ausgestatteten Bürgerkinder, „Scham“14 empfinden.
Jan Roß‘ Anleitung funktioniert als angenehm zu lesende Einführung in einen möglichen Bildungskanon. Für ihn entzündet sich das Bildungsgeschehen an Inhalten und Erfahrungen. Für eine Bildungsdebatte hat das Buch allerdings nicht viel zu bieten, weil es auf eine fast schon exemplarische Art und Weise vergisst, dass Bildung einen öffentlichen (und nicht nur familiären) Raum braucht, in dem diese Erfahrungen reflektiert und ventiliert werden können. Diesen Raum bilden im besten Falle die Bildungsinstitutionen, von denen bei Roß nicht die Rede ist. Sie wären der Ort, der eine Identität jenseits der Reproduktionslogiken ermöglicht. Insofern führt seine Anleitung nicht ins „Offene“15, sondern in die Sackgasse des bürgerlichen Selbstverständnisses.
References
- Jan Roß 2020: Bildung. Eine Anleitung. Berlin: Rowohlt, S. 12. Hinfort wird Roß‘ Buch unter der Sigle RB + Seitenzahl im Fließtext zitiert.
- Jutta Allmendinger 1999: Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In: Soziale Welt, 50, S. 35-50, hier S. 37.
- Immanuel Kant 1788/1998: Critik der practischen Vernunft. In: I.K.: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. IV: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Darmstadt: WBG, S. 107-309, hier: S. 300.
- Johann Wolfgang von Goethe 1795/2005: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: J.W.v.G: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens [=Münchner Ausgabe], Bd. 5, Hg. v. Hans-Jürgen Schrimpf, München: BTB, S. 288.
- Thomas Mann 1903/1960: T.M.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. VIII: Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Frankfurt/M., S. 271-339, hier S. 274.
- Carlos Spoerhase 2017: Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse. In: Merkur, 71, H. 818, S. 27-37, hier: S. 27.
- Didier Eribon 2013/2018: Gesellschaft als Urteil: Klassen, Identitäten, Wege. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, Berlin: Suhrkamp, S. 102
- Eribon, Gesellschaft als Urteil, S. 106.
- Eribon, Gesellschaft als Urteil, S. 102.
- Elena Ferrante 2013/2017: Die Geschichte der getrennten Wege. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Frankfurt: Suhrkamp, S. 227.
- Ebd.
- Elena Ferrante 2012/2017: Die Geschichte eines neuen Namens. Aus dem Italienischen von Karen Krieger. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 571.
- Ebd.
- Ebd.
- Friedrich Hölderlin ca. 1800/1943-1985: Brod und Wein. In: F.H.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Friedrich Beißner, Adolf Beck und Ute Oelmann. Stuttgart: Klett-Cotta, Bd.2, S. 91 (3,41f.).
SUGGESTED CITATION: Steinmayr, Markus: Familienaufstellung. Ein Blick in Jan Roß‘ „Bildung. Eine Anleitung“, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/familienaufstellung/], 20.07.2020