Kanon als das, was man nicht nicht kennen darf
Der zweite Beitrag unseres Schwerpunktthemas „Kanon, Kanonisierung, Kanonizität“ kommt von der Filmwissenschaftlerin Linda Waack, die an der Freien Universität Berlin forscht. Am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen steht der 2019 erschienene Text „Die Frau mit der Kamera“ von Elena Meilicke. In ihrem Blogbeitrag reflektiert Waack verschiedene Ebenen der Repräsentation vor und hinter der Kamera, Möglichkeiten der Informationsübertragung von „Geheimwissen“ auf „Gemeinwissen“ und die aktivistische Geste der selbstbewussten Kanonauffüllung.
Kanon war für mich immer das, was man nicht nicht kennen darf. Mein Unbewusstes hat darauf stark reagiert: Zum Beispiel als ich neu im Fach Filmwissenschaft war und zu «Jean-Luc Godard» konsequent «Jean-Paul Godard» gesagt habe, oder «Oberndorfer Manifest» zu «Oberhausener Manifest», als hätten sich die Filmemacher 1962 in einem Dorf im Schwarzwald getroffen und nicht in einer Großstadt im westlichen Ruhrgebiet.
Da Film kein Schulfach ist, hat man es im Bereich der Filmbildung häufig mit Spezialwissen oder auch Cinephilie zu tun. Zwei Erscheinungsformen des Kanons scheinen mir dabei augenfällig: 1. Gemeinwissen: Filme, die jeder kennt und die mit Begriffen wie «Masterpiece» geadelt werden bzw. in Reihen, etwa der Süddeutschen Zeitung, erscheinen. 2. Geheimwissen: Filme, die unter dem Radar des Kanons einen zweiten, dritten oder vierten bilden und die Distinktionsangebote in die Höhe treiben. Etwa, weil es schwer ist, sich Regisseure wie Raymond Rajaonarivelo zu merken, wenn man den Namen vorher nicht gehört hat. Es gibt einen verbindlichen Kanon und zugleich die Verbindlichkeit, sich unterhalb des Kanons zurecht zu finden.
In die Dynamik aus Gemeinwissen und Geheimwissen, die im Kanon wirkt, würde ich auch den Anlagewert des Diskurses selbst miteinbeziehen: Es zählt zum Beispiel nicht viel im Kontext von Filmwissenschaftlerinnen zu sagen: Ich finde Hitchcocks Vertigo großartig, es ist aber auch schwierig zu sagen, den hab‘ ich nie gesehen. Mein Zugang wäre, im Kanon jene grundsätzliche Asymmetrie auszumachen, die in jedem Wissen vs. Nichtwissen steckt. Der Kanon bietet die Möglichkeit, mit dieser Asymmetrie umzugehen. Mich interessieren vor diesem Hintergrund Versuche, den Filmkanon, das, was man wissen sollte, transparent zu machen: So wie das Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2003. Auf Einladung kamen hier „Filmschaffende, Filmhistoriker, Filmkritiker und Filmpädagogen zusammen, um einen Filmkanon von 35 Filmen zu diskutieren und zu beschließen.“ Ziel war ein Kanon für den Schulunterricht, der weniger vollständig als vielfältig sein wollte. Die Liste, die zustande kam, war überhaupt nicht vielfältig – jedenfalls nicht im Sinne von divers: Nosferatu (D, 1922, R: F. W. Murnau), Goldrausch (USA, 1925, R: Charlie Chaplin), Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR, 1925, R: Sergei Eisenstein), Laurel & Hardy (USA, 1928, R: Edgar Kennedy), Emil und die Detektive (D, 1931, R: Gerhard Lamprecht), M (D, 1931, R: Fritz Lang), Ringo (USA, 1939, R: John Ford), Der Zauberer von Oz (USA, 1939, R: Victor Fleming), Citizen Kane (USA, 1941, R: Orson Welles), Sein oder Nichtsein (USA, 1942, R: Ernst Lubitsch) usw. Die Auswahl war konsequent in ihrem Ausschluss. Kein Film einer Frau war dabei, kein Film einer Schwarzen – hier gab es keine Quote und keine kosmetische Einpflegung derjenigen, denen der Zugang zur öffentlichen Sphäre nicht nur symbolisch verweigert wird. Was die Schüler*innen nicht zu interessieren hatte: Barbara Lodens: Wanda, Charles Burnetts: Killer of Sheep, Cheryl Dunye: The Watermelon Woman, Harry Dodge: By Hook or by Crook. Es gibt natürlich andere Listen, etwa “BBC Culture’s 100 greatest films directed by women”, die ihrerseits von Ausschluss zeugen: The Piano (Jane Campion, 1993), Cléo from 5 to 7 (Agnès Varda, 1962), Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles (Chantal Akerman, 1975), Beau Travail (Claire Denis, 1999) – die Kanon à la française. Filme aufgrund eines repräsentationspolitischen Anliegens in die Kanon einzuschreiben, ist zumindest eine zweischneidige Sache, liegt darin doch ein Emanzipationsversprechen, das die strukturellen Widrigkeiten, unter denen diese Filme entstanden sind, zugleich leugnet. Die diverse Kanon ist unter Umständen sogar ein Problem, gewährt sie doch vermeintlich Zutritt zur Sphäre öffentlicher Kultur, während sie gleichzeitig zurückhält, was es bräuchte, um daran „unproblematisch“ oder „unmarkiert“ teilzuhaben. Schlimmer noch, ließe sich mit Max Weber sagen, sie integriert die vormals Ausgeschlossenen in die Logik ihres eigenen Ausschlusses.
Folgt man John Guillorys These, die ich im Rahmen unserer Diskussionen durch Hanna Engelmeier kennengelernt habe, dann beruht schon die Frage nach der repräsentationspolitischen Dimension des Kanons auf einer falschen Annahme, der nämlich, dass der Kanon überhaupt jemanden und etwas abbildet, etwa gesellschaftliche Diversität. Die Korrektur am Kanon vollziehen zu wollen, wäre folglich hoffnungslos, weil systemische Zusammenhänge dabei in den Hintergrund treten. Guillorys Argument ist institutionenkritisch und klassenbewusst. Der eigentliche Ausschluss finde nicht in der Kanonbildung, sondern bereits vorher im Zugang zu Bildungsinstitutionen statt, also in Schulen und Universitäten.
An der Universität ist das Problem der Kanon-Kritik vor diesem Hintergrund ein doppeltes, denn es ist für sie zugleich zu früh und zu spät. Zu früh, weil den Kanon zu kritisieren seine Kenntnis voraussetzt. Zu spät, weil die Zugangsbeschränkungen institutionell bereits gegriffen haben, bevor die Diskussion beginnt. Auch eine grundsätzliche Ablehnung der Kanonformation, etwa in Form eines Anti-Kanon, führt aus diesem Dilemma nicht heraus. Ich ertappe mich dabei, wie ich immer häufiger, wenn ich im ersten Semester nach einer Empfehlung gefragt werde, antworte: Schauen Sie Hitchcocks Vertigo und lesen Sie einen Text von Sigmund Freud. Mir kommt diese Antwort mittlerweile feministisch vor. Im Horizont von Guillorys Überlegungen bin ich davon überzeugt. Dennoch meldet sich innerlich die Gegenrede: Versteht man Universität als Ort der Subjektivierung, des Anders-werden-Könnens, dann müssen auch Filme vorkommen, die eine andere Subjektivität, eine neue Sicht der Welt ermöglichen, als sie der Kanon nahelegt. Diese Filme, die nicht auf ihre Kanonisierung hinzielen, können lebenswichtig sein. Filme, die, wie Adrian Daub im Gespräch sagte, für den Kanon „zwangsrekrutiert“ werden müssten, als Gegenkanon, Kanonkritik, Kanonauffüllung, Kanonenfutter. Für diese Filme braucht es neue canon maker, also Autorinnen, die etwas zum Kanon erklären. Den Text von Elena Meilicke habe ich gewählt, weil er in die Prozesse der Kanonisierung in unserem Fach eingreift, indem er einen Katalog von Kamerafrauen entwickelt. In dieser Geste liegt etwas Schönes, denn der Kanon wird spontan erweitert. Eine Genealogie lässt sich leichter begründen als man denkt, ohne dabei zwangsläufig tief in die Identitätspolitik oder Fachidentität eingelassen sein zu müssen. Wenn etwa, wie Natalie Lettenewitsch mir erzählte, Sibylle Berg in einem Interview auf die Frage, auf wen man in Zukunft mehr hören sollte, antwortet: Jutta Weber. Das ist die Keimzelle eines kurzweiligen Kanons – gegoogelt wird von selbst. Und schon findet ein Denken Einlass, das vorher unter dem Radar war. Das muss dann nicht heißen, dass dann alle dasselbe lesen, wissen oder sagen. Nach wie vor gilt ja: Lieber im Kanon als im Chor.
SUGGESTED CITATION: Waack, Linda: Kanon als das, was man nicht nicht kennen darf, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/waack-kanon/], 14.04.2020