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Zur Idee und Praxis eines queeren Kanon

Zur Idee und Praxis eines queeren Kanon Erschienen in: Kanon Von: Adrian Daub

Der vierte Beitrag unseres Schwerpunktthemas „Kanon, Kanonisierung, Kanonizität“ kommt von dem Literaturwissenschaftler Adrian Daub, der an der Universität Stanford arbeitet. Am Ausgangspunkt seiner Überlegungen steht das 2012 erschienene Buch „How To Be Gay“ von David Halperin. In seinem Blogbeitrag reflektiert Daub über Repräsentation in einem Kanon, der sich als ‚Geheimwissen‘ vom ‚Gemeinwissen‘ (Linda Waack) emanzipiert und der eine dezentrale Vorstellung von Identität und deren intentionaler Herstellung vertritt.
 

Der queere Kanon – so es ihn denn gibt – kombiniert auf relativ einzigartige Weise universelle Elemente, die Kanones generell zu eignen scheinen, mit bezeichnenden Eigenheiten. Oder vielleicht ließe sich das Partikulare hier zuerst einmal in Anführungszeichen setzen: Vielleicht drückt sich am queeren Kanon nur in ungewöhnlicher Schärfe etwas aus, was den Kanon generell charakterisiert. Diese Frage gilt insbesondere für die pragmatische Funktion des Kanons – was für eine Gemeinschaft ruft er ins Leben, wozu braucht/benutzt diese Gemeinschaft ihn. Statt dem, was Christopher Steiner ‚canon gazing‘ nennt, geht es beim queeren Kanon eher um ‚canon community‘: Es geht um eine Gemeinschaft, die sich erst durch den Kanon als solche konstituiert, die sich gegenseitig signalisiert und ihrer selbst vergewissert. Wie das funktionieren kann, hat David Haperins beeindruckendes Buch How To Be Gay nachgezeichnet. Insgesamt will ich den Text von Halperin als eine mögliche Thematisierung des eigentlich Interessanten ins Spiel bringen. Wie funktionieren Kanones unter der Perspektive der Identitätspolitik? Wie schaffen sie Identität und wie dezentrieren sie Identität?

Halperins Buch will ‚schwule Kultur‘ untersuchen, wobei diese Zielsetzung bereits eine Frage in den Vordergrund drängt, welche Kanones generell voraussetzen. Denken Sie an Formulierungen wie ‚1000 Gemälde, die Sie kennen müssen‘ oder ‚100 Romane, die man gelesen haben muss‘ – wer ist mit diesem ‚man‘ gemeint? Oder anders gesehen: Wenn ich eine Vorlesung zur Deutschen Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts angehe, dann stellt sich natürlich die Frage, was ‚die‘ Studierenden kennen müssen. Dem vorausgesetzt ist aber natürlich eine Vorstellung von der Art Studierender, die als Hörerinnen und Hörer teilnehmen könnten, eine Vorstellung, die z. B. in den USA ganz anders aussehen wird als in Deutschland. Es ist genau diese Vorstellung, die in den USA die ‚Canon Wars‘ ausgelöst hat: Nicht allein die Tatsache, dass vornehmlich weiße Autoren auf dem Lehrplan standen, erboste die Studierenden, sondern dass damit die ‚presumptive whiteness‘ „des“ Studenten zementiert wurde. Dies wirft nun für Kanonizität, wie sie Halperin intendiert, eine interessante Frage auf: Für wen ist dieser Kanon da? Wer genau ‚muss‘ diese Werke kennen? Und was passiert, wenn sie ihn nicht kennen? Halperin scheint da eine relativ klare Antwort vorauszusetzen – ich bin mir ehrlich gesagt nicht so sicher.

John Guillory hat in seinem Buch Cultural Capital: The Problem of Literary Canon Formation von 1993 das Verhältnis von Kanon und Identitätspolitik äußerst kritisch untersucht. Für Guillory stellt die Kritik am Kanon eine Reaktion auf die „disunity of the culture as a whole“ dar, „by constituting new cultural unities at the level of gender, race, or more recently ethnic subcultures, or gay and lesbian subcultures.“ (33) Mit anderen Worten: jene Homogenität, die dem großen Kanon abgeht, wird nun dem subkulturellen Kanon unterstellt. Guillory sieht die Kritik am Kanon während der „Canon Wars“ als von zwei Fantasien getragen: einerseits die einer stabilen Gemeinschaft (er macht sich sozusagen Plessners Tönnies-Kritik zu eigen), innerhalb derer gewisse Interessen, Fragen und Geschichten der Thematisierung wert sind; und andererseits eine Fantasie des moralischen Wertes der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung und Vermarktung eines Bildes der betreffenden Gemeinschaft. Guillory schreibt auch, dass für diese Kritiker „canonical and noncanonical works […] by definition mutually exclusive“ (20) sind. Genau hier hilft Halperins Buch, denn es geht ihm nicht um den von einer als stabil imaginierten Community anerkannten Kanon, der von deren Belangen handelte und von ihren Vertretern geschaffen wurde. Es geht ihm vielmehr um einen Kanon, der erstens nur von einer Community aus gedacht werden kann, und bei dem die Kanonizität immer schon ein Stück weit ironisiert ist, und der zweitens viele anderweitig unkanonische Werke umfasst, der also mit der Kategorie der Kanonizität selber spielt.

Das Verhältnis von Kanon und Identität wird, außerhalb der von Guillory kritisierten Kanonkritik, gerne verdrängt – klar, gerade wenn ein Publikumsmagazin eine Buchreihe oder Liste macht, wird die Frage nach ‚den großen Romanen‘ immer gerne verknüpft mit der Frage, ‚wer wir sind‘. Und wenn dann die Romane meistens von Goethe und Tucholsky sind, ist die identitätspolitische Dimension relativ offensichtlich. Karl Kraus hat den deutschen Bildungskanon in Die Letzten Tage der Menschheit nicht als Inhalt bezeichnet, „sondern ein Schmückedeinheim, mit dem sich das Volk der Richter und Henker seine Leere ornamentiert.“ (200) Andererseits aber soll ja gerade der Kunstkanon anders funktionieren. Er soll die Adressierung an eine bestimmte Gruppe oder einen bestimmten Typ Mensch transzendieren. So entscheidet sich ja ganz pragmatisch zum Beispiel, was übersetzt wird: Wenn ein Roman ‚nur‘ aus dem eigenen Kontext heraus zu verstehen ist und ‚nur‘ von Menschen, die seinen Stallgeruch wahrnehmen können, wirklich goutiert werden kann, wird er eher nicht übersetzt (es sei denn, es wäre ein Stallgeruch, den ‚wir‘ priorisieren).

Aber die Identitätspolitik hat mit diesem Diskurskniff so ihre Probleme. Denken wir an Filme, denen wohlmeinende Kritiker bescheinigen, es handele sich ‚nicht nur‘ um eine schwule, lesbische Liebesgeschichte, sondern um eine universale; oder es gehe ‚nicht nur‘ um das den amerikanischen Schwarzen widerfahrene Unrecht, sondern um die Intoleranz ‚als solche.‘ In dieser Subsumption unter das Universelle, die häufig die Eintrittskarte in den Kanon darstellt, sieht eine identitätspolitisch informierte Literatur einen Verrat am Inhalt, der droht, eben jene wieder unsichtbar zu machen, die sich eben erst ihren Platz in der Literatur oder Kunst erkämpft haben. Indem sich ein einer spezifischen Identität entwachsendes Werk „dem“ Kanon als solchen anbiedert, so die Befürchtung, wird es rein touristisch und kann nicht mehr authentisch „für“ jene Menschen sprechen oder stehen, die es eigentlich im Kanon verankern sollte.

Einerseits geht es also um einen Kanon, der sichtbar macht, was sonst nicht Platz oder nicht einmal Realität hätte. Der Schriftsteller Christopher Isherwood hat einmal in einem Brief die Zuschriften schwuler Leser beschrieben, die ihn nach der Veröffentlichung von The World in the Evening (1954) erreichten, gerade aus dem konservativen Inneren des Kontinents. „Es bricht einem das Herz, man bekommet ein Gefühl für diese Inselexistenzen, wie Sterne über die riesige Schwärze des mittleren Westens gestreut.“  (Bram, 61) Für diese Menschen, so erkannte Isherwood, vermittelte sein Buch überhaupt erst, dass der Einzelne nicht allein, sondern Teil einer Gruppe war. Das Buch erfüllte diese Funktion relativ unabhängig von Thema oder Qualität – The World in the Evening ist weder eines von Isherwoods besten Büchern, noch ist es sein schwulstes. Der Kanon schuf überhaupt erst die Identität, die er reflektieren sollte – und wurde erst infolge dieses Prozesses kanonisch.

Zweitens aber wirft der ‚schwule Kanon‘ eine weitere Frage auf: Halperin beschreibt einen Korpus von Referenztexten, der sich gerade nicht über Objekte definiert, die auf diesen Kanon hingeschrieben oder geschaffen worden sind. ‚Der‘ schwule Kanon bestand, wie Vito Russo in seinem Klassiker The Celluloid Closet (1981) gezeigt hat, entweder aus Filmen und Büchern, die ihren Wunsch auf Zugehörigkeit zu diesem Kanon subtextuell ausdrückten, oder aber solchen, die gar keine Ahnung hatten, dass sie in diesen Kanon gehörten. Hanna Engelmeier hat in ihrem Beitrag die Frage aufgeworfen, wer was kennt, und was kennen eigentlich bedeutet. Genau dies macht dieser Mikrokanon en detail vor.

Das wirft für mich eine Frage auf, inwiefern Anti-Kanonizität entweder in der Materie oder in der Form den Kanon verwischen, oder umgekehrt einen Kanon schaffen kann. Denn Halperin könnte ja einfach historisch argumentieren: dass die Liebe eines schwulen Publikums zu Judy Garland sich aus einer eher willkürlichen Auswahl oder anekdotischen Zufällen speist. Immerhin ist eine Bezeichnung wie „a friend of Dorothy“ (ein in den Sechzigern und Siebzigern gebräuchlicher Euphemismus für einen schwulen Mann) ja gerade deshalb ein passendes Codewort, weil sie nicht hundertprozentig triftig ist. Sie ist gerade metaphorisch genug, um uneindeutig zu sein. Dies, so Halperin, ist bei vielen schwulen Ikonen der Fall: „there seems to be something about figurality itself that they like.“ (122)

Halperin insistiert anderswo in seinem Buch darauf, dass diese Kanonisierung nicht reine Willkür ist – sie bezieht sich auf objektive Aspekte eines Films. Genau die Frage nach diesen objektiven Aspekten gestatte es, diesen Kanon in den späten Siebzigern als solchen zu konstituieren. Die Werke Jean Genets, Truman Capotes oder eben Christopher Isherwoods waren deshalb Kanon, weil sie von Weitem zu den ‚Inselexistenzen‘ des mittleren Westens herüberfunkten, weil sie offen von Homosexualität handelten. Studien wie Russos Celluloid Culture (und Karla Jay und Allen Youngs Lavender Culture von 1979) hingegen beschrieben einen Kanon von Werken, die zwar irgendwie ‚allen‘ gehörten (Superstars, beliebte Hollywoodfilme, Broadway Musicals), die aber einem schwulen Publikum anders gehörten als einem heterosexuellen. Dieser Kanon basierte darauf, dass die Kanonisierer das Objekt besser verstanden als die Schöpfer des Objekts.

Dieses Verständnis eines Kanons weicht ab von dem Primat der Qualität und fragt vielmehr nach dem Primat einer bestimmten Qualität, die vorhanden sein muss, um ein Format in den Kanon aufzunehmen. Diese Dimension kann sowohl bewusst in einem Text angelegt sein (das Melodram bei Fassbinder, der Affekt bei Tennessee Williams), oder dem Künstler selber absolut verborgen bleiben (Regisseur William Wyler hat Charlton Heston verheimlicht, dass er Ben Hur und Messala als homoerotisches Paar darstellen wollte, und Heston hat es anscheinend nie begriffen).

Es geht bei der Sensibilität für diese Dimension des Textes also nicht nur, wie Guillory es annimmt, um den Beitritt zu einer Gemeinschaft, zu einem Publikum, mit dem man eine gewisse Optik teilt. Der Wiedererkennungseffekt ist vielmehr ein genealogischer: Die Art und Weise, auf die ich dieses Objekt sehe, rekapituliert die Art und Weise anderer. Andere haben gesehen, was ich sehe, auch wenn die, die jetzt neben mir im Kino oder Theater sitzen, es nicht sehen können oder wollen. Halperin meint, dass diese Expansion des Kanons darauf hinauslaufe, „particular, personal queerness“ in „total, global queerness“ zu übersetzen (112). Anstatt dass der Konsument ‚nur‘ in der spezifischen Identität lebt, expandiert er diese Identität und imaginiert sie als global. Ich glaube, dass dies etwas ist, was man am (cis, weißen, männlichen) Homo-Kanon relativ gut zeigen kann, das aber auch eindeutig für andere identitätspolitisch verfasste Kanones gilt, auch andere queere Kanones, übrigens – diese Arbeit fängt z. B. was Literatur und Transgender-Identitäten angeht, gerade erst an. Aber sie hat selber bereits eine Art Tradition, denn etwas Analoges hat Toni Morrison nämlich in ihrem Essay Playing in the Dark vorgelegt: Sie frage sich, sagt sie dort, „whether the major and championed characteristic of our national literature,“ der kanonische Individualismus, die Obsession mit Unschuld und ihrer Pervertierung, „are not in fact responses to a dark, abiding, signing Africanist presence.“ (5) Das, was Kanon konstitutiv verdrängt, ist selber kanonisch – man kann es ebenso wenig aus dem Kanon verdrängen, wie es in einen Kanon traditioneller Prägung aufnehmen. Ein solcher Kanon ist queer, und muß queer bleiben, um verstanden, ja, um verwendet werden zu können.

References

  1. Christopher Bram, Eminent Outlaws: The Gay Writers Who Changed America (New York: Hachette, 2012).
  2. Michael Bronski, “Judy Garland and Others: Notes on Idolization and Derision,” in Karla Jay, Allen Young (Hrsg.), Lavender Culture (New York: New York University Press, 201–213.
  3. John Guillory, Cultural Capital: The Problem of Literary Canon Formation (Chicago: University of Chicago Press, 1993). https://doi.org/10.7208/chicago/9780226310015.001.0001.
  4. Karl Krauss, Die Letzten Tage der Menschheit (Frankfurt: Suhrkamp, 1986).
  5. Toni Morrison, Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Imagination (Cambridge, Mass: Harvard Univ. Pr., 1992).
  6. Vito Russo, The Celluloid Closet: Homosexuality in the Movies (New York: Harper & Row, 1981).

SUGGESTED CITATION: Daub, Adrian: Zur Idee und Praxis eines queeren Kanon, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/zur-idee-und-praxis-eines-queeren-kanon/], 11.05.2020

DOI: https://doi.org/10.17185/kwi-blog/20200511-0900

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