Zwischen Reklame und Realität

Als ich Anfang des Jahres 2024 in der Leipziger Straßenbahn dieses Foto aufnahm, fiel mir der Satz von Bertolt Brecht wieder ein: „Die Widersprüche sind unsere Hoffnung“. Das Motiv der zwei Werbetafeln, das sich mir präsentierte, weckte in mir jedoch trotz des Widerspruchs keine Hoffnung. Die ironische Aufschrift des linken Plakates: „Das lässt niemanden kalt: Die Erderwärmung“ warnt einerseits vor der globalen Temperaturerhöhung, andererseits lässt uns auch die Tatsache der Erderwärmung nicht kalt, da sie gravierende Folgen für unseren Planeten und die Menschheit hat. Direkt daneben fängt ein Werbeplakat mit einem idyllischen Strandmotiv den Blick ein, begleitet von den Slogans „Ab in den Urlaub“ und „Glück beginnt in unserem neuen Reisebüro“. Es ist vermutlich nur ein Zufall, dass beide Reklamen derart prägnant nebeneinander platziert wurden, aber die sich beim Anblick einstellende Dissonanz kann als sinnbildlich für die sich immer mehr verschärfenden Wiedersprüche zwischen multiplen Krisen1 und Exzessen interpretiert werden. Zudem zeigt das Plakat links ein Balkendiagramm der globalen Temperaturentwicklung von 1840 bis 2023. Zu Beginn der Industrialisierung sind die Balken noch in einem harmlosen Blau, verwandeln sich jedoch in Richtung Gegenwart in immer bedrohlichere Rottöne. Die Darstellung wirkt suggestiv und verdeutlicht die Bedrohung, die die Erderwärmung im Anthropozän2 darstellt. Dem entgegen lockt das rechte Plakat mit einem „tollen Strandtuch“ als Geschenk für das Buchen eines Urlaubs, illustriert von einem idyllischen Foto schattiger Stühle am Meer.
Die Dissonanz dieser Botschaften ist offensichtlich. Beide Werbeplakate verfolgen zwar dasselbe Ziel, nämlich die Aufmerksamkeit der Fahrgäste zu erregen. Während jedoch das eine Wärme verspricht, warnt das andere davor. Das Plakat des Reisebüros fordert zudem über den Slogan „Oder gestalte die Zukunft des Reisens selbst“ zu Jobbewerbungen auf. Doch angesichts der fortschreitenden Klimakrise stellt sich die Frage: Welche Zukunft hat das Reisen überhaupt?
Obwohl Urlaube in der Sonne für viele Menschen eine Quelle des Glücks darstellen, ist den allermeisten bewusst, dass Flugreisen einen erheblichen Beitrag zur Erderwärmung leisten. Steht das Streben nach individuellem Glück also im Widerspruch zum Gemeinwohl? Wie geht man mit dem Widerspruch um, zu wissen, dass der menschengemachte Klimawandel real ist, und trotzdem zu fliegen?
Folgt man den Modellen kognitiver Dissonanz, rationalisieren wir im Bedürfnis nach kohärentem Handeln unser Verhalten, um es zu rechtfertigen.3 Bewusster Konsum gibt uns als Verbraucher:innen die Möglichkeit, Entscheidungen nach moralischen und ethischen Grundsätzen zu treffen und somit ein gutes Gewissen gegenüber den Widersprüchen zu finden. Glück durch gutes Gewissen statt durch Flugreisen. Wer auf das Fliegen verzichtet und stattdessen beispielsweise mit dem Zug reist, entscheidet sich meist bewusst für eine nachhaltigere Konsumpraktik, die aber oft teurer und zeitintensiver ist. Eine andere Möglichkeit bietet das Zahlen einer CO2-Kompensation. So sollen Projekte, die einen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten, finanziert werden, um die ausgestoßenen Treibhausgase zu kompensieren. Die Transparenz und Seriosität solcher Projekte sind dabei für die meisten Verbraucher:innen nicht von Relevanz, da der bloße Aufpreis als Zeichen des guten Handelns wahrgenommen wird oder der Verzicht auf billigere Alternativen für ein reines Gewissen genügen.4
Der Fokus auf Konsumentscheidungen als zentrale Maßnahmen im Kampf gegen die globale Erwärmung nimmt die Verantwortung von Wirtschaft und dem Staat und schiebt sie den Einzelnen zu: Die Autofahrer:innen sind schuld, nicht die Politik, die keine sinnvollen Alternativen anbietet, die Urlauber:innen, die in die Hitze fliegen, nicht der Staat, der Kerosin nicht besteuert und die Flugindustrie subventioniert. Dies verkennt, dass Staat und Politik durchaus in der Lage sind, das Angebot zu steuern, und sie damit einen entscheidenden Einfluss auf den Konsum haben. Letztendlich kann Hoffnung vielleicht in den Widersprüchen gefunden werden, jedoch nur, wenn wir sie aufdecken und reflektieren. Denn die Hoffnung liegt nicht im Widerspruch selbst, sondern in den Handlungen, die seiner Bewusstwerdung folgen.
References
- Brand, Ulrich und Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München: oekom verlag, S. 22–27, https://doi.org/10.14512/9783960061908.
- Crutzen, Paul J. (2002): Geology of mankind, in: Nature, Heft 415, S. 23, https://doi.org/10.1038/415023a.
- Festinger, Leon (1963): A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford: Stanford University Press, S. 10–12.
- Ullrich, Wolfgang (2013): Alles nur Konsum: Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach, S.127–149, https://doi.org/10.7788/boehlau.9783412211523.225.
SUGGESTED CITATION: de la Rosa Casarotto, Dario: Zwischen Reklame und Realität. Die Klimakrise als Problem des Konsums, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/zwischen-reklame-und-realitaet/], 29.05.2024