Anton Paul WandelClelio BurkartFranziska ZotzMarietta MannMax Greiner-KaiserQuellen des Mangels

Im Rausch des Überflusses

Im Rausch des Überflusses Mangel und Überfluss in Anbetracht Andreas Gurskys 99 Cent Erschienen in: Quellen des Mangels Von: Anton Paul Wandel, Clelio Burkart, Franziska Zotz, Marietta Mann, Max Greiner-Kaiser

Meterlang erstrecken sich die schmalen Gänge. Sie werden flankiert von vollgepackten Regalen, die über die Köpfe der Konsument:innen hinausragen. Bunte Produkte reihen sich lückenlos aneinander und versuchen, die Blicke auf sich zu ziehen. Verheißend ergießt sich das Neonlicht auf die Szenerie. Der Anblick weckt die Erinnerung an den altbekannten Kindheitstraum, in diesem Überfluss eine Nacht lang eingeschlossen zu sein und einmal alles probieren zu können. Willkommen im Paradies – willkommen im 99 Cent Geschäft!

Abb. 1: Andreas Gursky, 99 Cent (1999), Fotografie, 2,07 x 3,39 m © Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Courtesy: Sprüth Magers. Wir danken der Galerie Sprüth Magers für die freundliche Genehmigung zur Verwendung der Abbildung

Das Konzept geht auf den US-amerikanischen Spirituosenhändler Dave Gold zurück, der um 1980 den Abverkauf von Weinen zur krummen Summe von 99 Cent erprobte. Diese Idee erwies sich rasch als großer Erfolg und der seltsame Preis lockte die Kund:innen in Scharen in seinen Laden. Am 13. August 1982 eröffneten er und seine Frau Sherry schließlich den ersten 99 Cents Only Store in Los Angeles. Als Marketing-Stunt boten sie den ersten neun Kunden:innen Fernsehgeräte ebenfalls zum Preis von 99 Cent an. Das Ergebnis waren eine Schlange von 300 Menschen, die zum Tag der Eröffnung vor dem Laden ausharrten, sowie zehn Fernsehbeiträge, die über das Spektakel berichteten.1

Seit 2014 sind die 99 Cents Only Stores ein börsennotiertes Unternehmen mit mehr als 332 Filialen. Doch nicht nur der niedrige Preis macht den Erfolg der Ladenkette aus. Auch die von Gold entwickelte Strategie, die Waren so in Szene zu setzen, dass großflächige, farbenfrohe Muster entstehen, die die Räume der Supermärkte eindrucksvoll ausfüllen, findet großen Anklang. Die Myriaden buntleuchtender Kleingeldartikel, die hier als Versprechen des erschwinglichen Konsums inszeniert sind, lassen leicht vergessen, dass sie zumeist am anderen Ende der Welt billig und unter prekären Bedingungen hergestellt werden. Dave Golds durchschlagende Idee wird bis heute tausendfach kopiert und zieht weiterhin unzählige Kund:innen an. Mit seinem Konzept hat er das Abziehbild eines kindlichen Wunschtraums erschaffen: Süßigkeiten und Limonaden aller Art, bis unter die Decke gestapelt in schier endlosen Regalen. Und all das für weniger als einen Dollar – Produkte, die niemand wirklich braucht und doch jede:r haben will.

Diesen Konsumrausch hält der Künstler Andreas Gursky im Jahre 1999 in dem Bild 99 Cent fest. Es ist mittlerweile eines der am teuersten gehandelten Fotografien des Kunstmarkts. Gurskys 99 Cent führt uns nicht nur die Geschäftsfläche eines amerikanischen Discounters vor Augen, sondern auch die surreale Wirklichkeit unseres alltäglichen Konsumverhaltens.

Gurskys 99 Cent zeigt eine Konsumlandschaft, die sich, wie für seine fotografischen Werke üblich, über eine enorme Bildfläche erstreckt. Mit Bildmaßen von 2,07 x 3,39 Metern zählt es dabei noch zu seinen kleineren Arbeiten. Auf den ersten Blick scheint sich uns etwas Bekanntes, beinahe Alltägliches, zu offenbaren. Der Anblick von bunt beworbenen Produkten in vollen Supermarktregalen ist uns vertraut. Doch nehmen wir als Betrachtende keine gewöhnliche Perspektive ein, sondern können leicht erhöht über die vielen Regalreihen hinwegblicken. Wir schweben förmlich mit unseren untersuchenden Blicken über dem Szenario, das unserer Realität vertraut erscheinen könnte, jedoch in seiner repetitiven Ästhetik keiner natürlichen Ordnung folgt.2 Dabei ist es uns nicht nur möglich, nahezu die gesamte Ladenfläche einzusehen, sondern auch die kleinsten Details auf den Artikeln, wie Markennamen, Werbeaufschriften oder -schilder auszumachen. Gursky setzt dazu viele kleinere Fotografien mittels digitaler Bildbearbeitung zu einem großen Bild zusammen, sodass ein möglichst umfangreicher und detailreicher Raum konstruiert wird. Zusätzlich unterzieht der Fotokünstler Form, Kontrast und Farbigkeit seiner Werke einer intensiven Nachbearbeitung, um die Grenzen der Fotografie durch die visuelle Rhetorik der Malerei und des Films zu erweitern.3

Bei einigen Betrachter:innen löst die übermenschlich große Fotografie ein Gefühl des Eintauchen-Wollens in den Überfluss des Angebots und den unglaublichen Detailreichtum aus. Andere hingegen empfinden angesichts der farbenfrohen Fülle Ekel gegenüber dem billigen und qualitativ minderwertigen Produktangebot. Die dichte Szenerie, die scheinbare Endlosigkeit der Produkte und die Größe der Fotografie selbst evozieren zudem den Eindruck von Überfluss und Vielfalt, während sich die Anordnung eher durch Uniformität und Gleichheit auszeichnet. Die Menschen in der Fotografie verschwinden zwischen den Regalen und erscheinen den Produkten gegenüber zweitrangig. Durch die Bearbeitung und damit einhergehende Überzeichnung wird das Gefühl des Exzesses verstärkt. Dabei sind volle Regale in Supermärkten für uns der Regelfall. Überfluss ist alltäglich, wir bemerken ihn kaum, weil er für uns zur Normalität geworden ist.

Und doch werden wir durch die geradezu monumental wirkende Fotografie dazu aufgefordert, Themen des Exzesses, der Konsumgesellschaft und der Globalisierung zu reflektieren sowie über die Auswirkungen von Überfluss auf individueller und gesellschaftlicher Ebene nachzudenken. Indem Gursky die maßlose Fülle an Produkten in einem Supermarkt einfängt und in einem einzigen Bild komprimiert, macht er die Komplexität und Ambivalenz des Überflusses anschaulich. Damit eignet sich Gurskys Werk ideal für eine Reflektion über die Komplexität von Knappheit und Überfluss in der modernen Konsumgesellschaft.

Die Vorherrschaft der Knappheit in der Ökonomik

99 Cent ist auf den ersten Blick eine Verbildlichung von Exzess und Überfluss und nicht von Knappheit. Dem entgegen legt das vorherrschende wirtschaftswissenschaftliche Paradigma der neoklassischen Ökonomik den Schwerpunkt auf Theorien und Postulaten von Knappheit als grundlegendes Prinzip der Ökonomie. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die Konzepte von Knappheit und Überfluss tatsächlich als Gegensätze betrachtet werden sollten oder ob sie nicht vielmehr miteinander verflochten sind.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrmeinung wird Knappheit „als conditio naturalis“ gesetzt“4, also als unvermeidliche Bedingung, da die Ressourcen zur Befriedigung der unbegrenzten menschlichen Bedürfnisse begrenzt seien. Knappheit führt dazu, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, wie Ressourcen am effizientesten genutzt werden können, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Diese Sichtweise der neoklassischen Ökonomie wird jedoch aktuell zunehmend kritisch hinterfragt und betont, dass es sich bei Knappheit um keinen objektiven Zustand, sondern um eine soziale Konstruktion handelt.5 Die gegenwärtigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskurse sind geprägt von einem neoklassisch-ökonomischen Knappheitsverständnis. Die gesellschaftlich-kulturell vermittelte Wahrnehmung von Knappheit und die damit verbundenen Entscheidungen über Zugriffs- und Verteilungsrechte spielen eine wichtige Rolle beim Umgang mit Situationen des Mangels.

Aktuell wird diese Debatte von den amerikanischen Historikern Fredrik Albritton Jonsson und Carl Wennerlind in ihrem 2023 erschienenen Werk Scarcity aufgegriffen. Dabei verorten sie Knappheitskonzepte grob in zwei Modellen, die sie als Cornucopian Scarcity bzw. Finitarian Scarcity bezeichnen. Für Jonsson und Wennerlind zeichnen sich Cornucopian Ideen von Knappheit dadurch aus, dass sie von der Möglichkeit einer aktiven Beherrschung der Natur ausgehen, verbunden mit einer dynamischen und expansiven Idee menschlicher Bedürfnisse. Alle so gearteten Theorien eint die Vorstellung, dass die natürlichen Ressourcen durch neue Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse letztlich unendlich erweiterbar seien. Menschliche Bedürfnisse können zudem nie komplett gestillt werden, da sie uns als körperlich-endlichen Wesen inhärent sind. Folglich bestehe eine Knappheit von Ressourcen. Sie würde allerdings kein wirkliches Problem darstellen, da durch Entwicklungen und Forschung neue Wege gefunden werden können, diese Ressourcen unendlich zu erweitern. Das bedeutet beispielsweise, Ressourcen effizienter zu nutzen, Abfallstoffe wiederzuverwerten oder neue Ressourcen wie erneuerbare Energien zu erschließen. Somit bilden die unter dem Cornucopian Modell zusammengefassten Theorien das Fundament für die moderne neoklassische Ökonomik sowie für ein kapitalistisches, auf unlimitiertes Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem.6 Das Finitarian Modell hingegen betont die Grenzen der menschlichen Macht über die Natur und plädiert für das aktive Einschränken menschlicher Bedürfnisse.

Die beiden Ansätze unterscheiden sich zudem darin, worin sie die Grenzen der menschlichen Fähigkeiten sehen und wie wir konkret unsere Bedürfnisse limitieren sollen. Finitarian Ideologien von Knappheit beruhen auf der Vorstellung, dass die natürlichen Ressourcen endlich sind und menschliche Bedürfnisse begrenzt werden beziehungsweise daran angepasst werden können. So soll ein Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Natur erreicht werden. Ein Gleichgewicht, das es in Gurskys Fotografie eines uneingeschränkten Konsums nicht zu geben scheint.

Keine Knappheit in der Steinzeit?

Ein frühes Finitarian Modell verortet der amerikanische Kulturanthropologe Marshall Sahlins im Paläolithikum. In seinem vielbeachteten Buch Stone Age Economics (1972) stellt er die These auf, dass die Menschen der Steinzeit in ‚der ursprünglichen Wohlstandsgesellschaft‘ lebten. Die Ökonom:innen seiner Zeit widersprachen dieser Ansicht jedoch entschieden. Sie charakterisierten diese Epoche der Menschheitsgeschichte stattdessen als risikoreich und unproduktiv, da die Praktiken des Jagens und Sammelns ineffizient seien. Für Sahlins hingegen kannte die Jäger- und Sammlergesellschaft weder Hunger noch Mangel, da die Bedürfnisse der Menschen endlich und überschaubar waren. Zudem reichten die damaligen technischen Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung trotz ihrer Begrenztheit im Großen und Ganzen aus.7 Ausgehend davon argumentiert er, dass es zwei Wege zum Wohlstand gäbe: „Wants may be ‚easily satisfied‘ either by producing much or desiring little.“8

Während die Menschen der Steinzeit weniger begehrten und die zu befriedigenden Bedürfnisse klein hielten, wird heutzutage so viel produziert wie nie zuvor. Der künstlich erzeugte Überfluss soll Bedürfnisse wecken, welche wiederum als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung dienen sollen. Dies hat allerdings zur Folge, dass die Befriedigung der Bedürfnisse mit einer stetigen Steigerung der Produktion einhergeht. Kann sie nicht mehr gewährleistet werden, kommt es zu Mangelerscheinungen.9 Mit Sahlins zeigen die Jäger- und Sammlergesellschaften der Frühsteinzeit, dass Wohlstand von den Bedürfnissen abhängig und somit relativ ist. Ist die Vielfalt und Menge an Produkten, die wir auf dem Bild von Gursky sehen, also ein Zeichen von gesellschaftlichem Wohlstand oder von Überproduktion?

Hin zum Überfluss

In 99 Cent ist der Überfluss in aller Deutlichkeit in Szene gesetzt: ein Übermaß an Farben, eine Unmenge an erschreckend gleich aussehenden Produkten. Tausende Kilogramm Zucker und Unmengen an Plastik- und Aluverpackungen strahlen uns in grellen Farben an. Die Frage, ob es solch einen Warenüberfluss braucht, rückt dabei in den Hintergrund. Durch das vorhandene Warenangebot werden Bedürfnisse geschaffen, nicht befriedigt. Diese Bedürfnisse entstehen demnach nicht durch die Notwendigkeit des Ge- und Verbrauchs, sondern entspringen lediglich aus dem Wunsch des Besitzens. Die Industrie reagiert hierauf, indem sie die Konsumbedürfnisse durch eine gesteigerte Produktvielfalt mit mehr Auswahlmöglichkeiten erweitert. Wie deckt das Kaufbare also den Bedarf? Indem das Kaufbare den Bedarf neu bestimmt.

In seinem Aufsatz The Problem of Excess postuliert der Soziologe Andrew Abbott, dass viele klassische ‚Knappheitsprobleme‘ besser als ‚Überschussprobleme‘ betrachtet werden sollten.10 Während die meisten Wirtschaftstheorien seit dem 19. Jahrhundert auf dem Grundverständnis einer Knappheit an Ressourcen oder Möglichkeiten basieren, lenkt Abbott den Blick in eine andere Richtung. Er betont, dass der Kapitalismus erst dann umfassend verstanden werden kann, wenn man annimmt, dass vielmehr Überfluss die Grundlage des Systems bildet. Überfluss kann dabei vielfältig verstanden werden, er muss nicht materiell oder rohstofflich sein, sondern kann auch immateriell, beispielsweise ein Überfluss an Informationen oder an Anforderungen sein.

Auch in Gurskys 99 Cent scheint der kapitalistische Exzess offensichtlich – wieso ist dann in dieser Überflussgesellschaft überhaupt noch von Knappheit und Mangel die Rede? Mangel beschreibt zunächst das Fehlen von Gütern oder Ressourcen, die zum Überleben notwendig sind. Jedoch ist Mangel eben auch „ein Ergebnis menschlichen Handelns“11, da Knappheit immer in Relation zu Bedürfnissen entsteht. Knappheit wird also gesellschaftlich hergestellt, indem Bedürfnisse produziert oder sogar manipuliert werden. Demnach handelt es sich hierbei um eine der wirkmächtigsten Erfindungen der Menschheit, da sie neue Formen des Wirtschaftens möglich macht.12 Somit ist es falsch zu denken, der Kapitalismus basiere auf der viel gepriesenen Knappheit. Die Güter- und Ressourcenknappheit war einmal, heute wird sie nur noch durch das ökonomische System aufrechterhalten: Gibt es zu viel von einem Produkt, fällt der Preis so stark, dass einige Produzent:innen aufhören, dieses Produkt herzustellen, da ihre Produktionskosten den Verkaufspreis übersteigen. Also verschwinden sie vom Markt und es entsteht erneut eine Knappheit. Gleichzeitig – und das ist die faszinierende Perversion an der kapitalistischen Verteilungslogik – wird als Ziel des Systems ‚freier Markt‘ immer wieder der Wohlstand für alle postuliert.13 Der angepriesene Überfluss und der Wohlstand für alle können in diesem System so nicht erreicht werden. Wie Abbot mithilfe des österreichischen Ökonomen Carl Menger aufzeigt, ist Überfluss ist nicht nur ein im Kapitalismus unmöglicher Zustand – sondern der Überfluss eines Produktes oder einer Ressource ist in diesem System schlicht und einfach nicht erwünscht.14 So sind beispielsweise Luft, Salzwasser oder Sonnenlicht in einer kapitalistischen Marktlogik schlicht keine Güter, da sie – bislang – nicht verknappt und kommodifiziert werden können.

Die Wirtschaftsforschung beschäftigt sich vor allem mit Theorien, die auf Knappheit beruhen, obwohl wir in einer Gesellschaft des Überflusses leben. Deshalb plädiert Abbott dafür, dass der Fokus mehr auf Theorien des Überflusses gelegt werden soll. Exzess ist charakteristisch für die menschliche Existenz und hat es schon immer gegeben. In der Moderne wird er aber zu einem besonders dringlichen Problem.15 Nach der Überflusstheorie Abbotts ist das zentrale Problem des gesellschaftlichen Lebens nicht, zu wenig von etwas zu haben, sondern zu viel. Nicht die Knappheit, sondern der Überfluss schafft Probleme. Durch die Verschiebung des analytischen Blicks auf Probleme des Überflusses lassen sich andere Perspektiven gewinnen, die unserer heutigen modernen Gesellschaft womöglich mehr entsprechen als die der Knappheitstheorien.

Das System des Kapitalismus baut auf einem Narrativ auf, in dem der Markt in der Lage ist, die knappen Güter und Ressourcen gerecht zu verteilen. Abbotts Überflusstheorie bietet einen alternativen Ansatz, der sich mit den sozialen und kulturellen Dimensionen von Überfluss auseinandersetzt. Soziale Fragen werden oft als Probleme der Knappheit und des Mangels verstanden, obwohl sie unter dem Gesichtspunkt des Überflusses betrachtet werden sollten, um neue Antworten auf alte Verteilungsfragen zu finden.16 In der heutigen Welt, in der der Konsum oft mehr vom Überfluss als von echtem Bedarf getrieben wird, gewinnt diese Perspektive immer mehr an Bedeutung. Dies zeigt sich in der Fotografie 99 Cent, in der die Frage des eigentlichen Bedarfs keine Rolle mehr spielt, da die exzessive Fülle des Angebots jeden Winkel unseres Blickfeldes einnimmt.

Die Arbeit hinter den Regalen

Gurskys Darstellung des Überflusses ruft Reaktionen und Gefühle wie Lust, Überforderung und Ekel hervor. Die künstlerische Zuspitzung verweist gleichzeitig auf die scheinbare Abwesenheit von menschlicher Arbeit, die hinter den stets vollen Regalen steckt. Die Wertschöpfungskette und die Akteur:innen, die die Bereitstellung des dargestellten Angebots ermöglichen, sind inmitten der Produktlandschaft unsichtbar geworden. Die Bedingungen, unter denen die Artikel produziert und in den Verkauf gebracht werden, bleiben unhinterfragt.

Mit Blick auf die marx’sche Theorie des Warenfetischs lässt sich argumentieren, dass sich die Entlohnung der Arbeit nach dem vom Markt zugeschriebenen Tauschwert der Ware richten muss.17 Entsprechend ist das Angebot des 99 Cents Only Stores auf möglichst billige – und damit oftmals menschenfeindliche und ausbeuterische –Warenproduktion angewiesen. Es ist schließlich weniger das Produkt selbst als das Preisversprechen der Discounterkette, das zum Fetischcharakter der Ware führt und Druck auf die Produktionskette ausübt. Die hohe Nachfrage sowie die unschlagbar niedrigen Verkaufspreise und die unverzügliche Verfügbarkeit der Waren erschweren eine Hinterfragung des eigentlichen Wertes der Arbeit hinter dem Angebot, weil diese unsichtbar geworden ist. Die Auswirkungen dessen für Arbeiter:innen und Ressourcen nehmen zwischen den prall gefüllten Regalen und bunten Produkten keinen Raum ein.

In ihrem Fokus auf Probleme des „Zuviel“ erlauben Theorien, Probleme wie die ungleiche Verteilung von Reichtum und Ressourcen, aber auch Überproduktion und Umweltverschmutzung neu in den Blick zu nehmen. Dies kann helfen, Verteilungsfragen neu zu verstehen und neue Lösungsansätze zu finden. In einer Welt, in der Überfluss oftmals als erstrebenswertes Ideal angesehen wird, müssen wir uns dringend mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen dieses Exzesses auseinandersetzen.

Die Arbeit 99 Cent kann hierbei als eindringlicher Appell verstanden werden, unseren eigenen – vom Überfluss geprägten – Konsum zu hinterfragen. Sie führt uns vor Augen, wie absurd das Bild der uns jederzeit und in rauen Mengen zur Verfügung stehenden Waren gegenüber unserem eigentlich deutlich überschaubaren Bedarf wirkt. Vor allem aber macht sie deutlich, dass dringend neue Wege gefunden werden müssen, um mit den Herausforderungen des Exzesses umzugehen und den Rausch des Überflusses überwinden zu können.

References

  1. Vgl. Hutter, Michael (2015): The Rise of the Joyful Economy. Artistic invention and economic growth from Brunelleschi to Murakami, Oxon/New York: Routledge, S. 170, https://doi.org/10.4324/9781315758503.
  2. Vgl. Ohlin, Alix (2002): Andreas Gursky and the Contemporary Sublime, in: Art Journal, Bd. 61, Heft 4, S. 22–35, https://doi.org/10.1080/00043249.2002.10792133.
  3. Vgl. Berecz, Ágnes (2019): 100 Jahre. 100 Kunstwerke, München: Prestel, S. 168.
  4. Welz, Gisela (2015): Knappheit − eine anthropologische Kategorie?, in: Markus Tauschek und Maria Grewe (Hrsg): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen, Frankfurt a. M.: Campus, S. 35.
  5. Vgl. ebd., S. 47.
  6. Vgl. Jonsson, Fredrik Albritton und Carl Wennerlind (2023): Scarcity. A History from the Origins of Capitalism to the Climate Crisis, Cambridge: Harvard University Press, S. 5, https://doi.org/10.2307/jj.890690.
  7. Vgl. Welz, Gisela (2015): Knappheit − eine anthropologische Kategorie?, in: Markus Tauschek und Maria Grewe (Hrsg): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen, Frankfurt a. M.: Campus, S. 48.
  8. Sahlins, Marshall (1972): Stone Age Economics, Chicago/New York: Aldine Atherton Inc., S. 1ff.
  9. Vgl. Welz, Gisela (2015): Knappheit − eine anthropologische Kategorie? in: Markus Tauschek und Maria Grewe (Hrsg): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen, Frankfurt a. M.: Campus, S. 49.
  10. Abbott, Andrew (2014): The Problem of Excess, in: Sociological Theory, Bd. 32, Heft 1, S. 2, https://doi.org/10.1177/0735275114523419.
  11. Welz, Gisela (2015): Knappheit − eine anthropologische Kategorie? in: Markus Tauschek und Maria Grewe (Hrsg): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen, Frankfurt a. M.: Campus, S. 51.
  12. Vgl. ebd., S. 51f.
  13. Vgl. Erhard, Ludwig (1957): Wohlstand für alle, Düsseldorf: Econ.
  14. Vgl. Abbott 2014, S. 6.
  15. Vgl. ebd., S. 2.
  16. Vgl. ebd., S. 1.
  17. Marx, Karl (1922): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, erstes Buch. Der Produktionsprozess des Kapitals, 6. unv. Aufl., Stuttgart/Berlin: Dietz, S. 35–47.

SUGGESTED CITATION: Burkart, Clelio; Greiner-Kaiser, Max; Mann, Marietta; Wandel, Anton Paul; Zotz, Franziska: Im Rausch des Überflusses. Mangel und Überfluss in Anbetracht Andreas Gurskys 99 Cent, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/im-rausch-des-ueberflusses/], 31.05.2024

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20240531-0830

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