Markus Steinmayr

Risiken und Immunisierung

Risiken und Immunisierung Pandemien der Literatur Von: Markus Steinmayr

Das Virus hält uns fest, es umarmt uns nicht. Gleichzeitig befreit es uns. Es entstehen andere und neue Bilder des sozialen Zusammenhalts in unserer Gesellschaft. Es kommen in der neuen Imagination des Sozialen zwei Diskurse zusammen, die einerseits eine lange Tradition haben, die andererseits aber auch derzeit eine semantische Konjunktur erleben. Da wäre zum einen die Vorstellung eines allgegenwärtigen Risikos, das man auf sich nimmt, um in der Moderne zu leben. Ergänzend dazu etabliert sich zum zweiten derzeit die Immunologie als umfassendes Schutzphantasma gegen die Risiken öffentlichen Lebens.

Im Umgang mit dem Virus geht es derzeit um Risikominimierung. Das hört man überall. Das Risiko nicht hinreichender Kapazitäten in den Krankenhäusern muss bewältigt, das Risiko der Ansteckung muss minimiert werden. Der Begriff des Risikos bezieht sich auf die Möglichkeit des Eintretens künftiger Schäden aufgrund von Entwicklungen, die in der Gegenwart beobachtbar sind.1 Die zukünftigen Maßnahmen sind Extrapolationen der Gegenwart. Die gegenwärtig beobachtbaren Entwicklungen (Infizierte, Kapazität der Krankenhäuser) bedingen das, was in der Zukunft passieren wird, ohne dass man genau wüsste, auf welche Art sie dies tun werden. Entscheidungen, dies oder jenes zu tun, anderes aber nicht, müssen ohne hinreichende Kenntnis des Zukünftigen getroffen werden.Mit dem Risiko leben, heißt auch, mit Nicht-Wissen leben zu müssen. Das Virus ist ein außergewöhnliches Ereignis. Die Geschichte dieses neuen Ereignistypus lässt sich nicht mehr, wie Goethe einst vorschlug, als „sich ereignete unerhörte Begebenheit“3 erzählen.

Ereignisse wie das Corona-Virus sind Symbolisierungen von Globalisierung und der Vernetztheit unserer Welt. Das Virus als Ereignis gewinnt dabei sein Profil durch eine doppelte Abgrenzung gegen die Naturkatastrophe einerseits und die vorsätzlich herbeigeführte, von einem Subjekt verantwortbare Handlung andererseits. Von der Katastrophe ist es vor allem durch sein soziales Wesen und seine Regelhaftigkeit unterschieden. Aus diesem Grunde ist auch immer von SARS, EBOLA und anderen Krankheiten die Rede, die im Grunde die Regel sind.

Ein Ereignis wie das Eintreten einer Pandemie ist im modernen Sinne eher ‚normal‘, jedenfalls nicht außergewöhnlich, es gehört zur Zivilisation der globalisierten Welt. Man rechnet jederzeit mit dem Eintreten dieses Ereignisses, um so den Begriff des ‚außergewöhnlichen Ereignisses‘ zu kassieren, es gleichsam durch die Institutionen der Gesundheit und der Politik zu versichern.

Mit dieser Neudefinition des immer schon versicherten Ereignisses verschiebt sich die Funktion der ‚unerhörten Begebenheit‘ innerhalb des kulturellen Archivs. Heinrich von Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ mag den Unterschied zwischen der traditionellen Nutzung von außergewöhnlichen Ereignissen und der modernen Schilderung illustrieren. Das Erdbeben, das dem Text den Titel gibt, setzt die Ordnung der Moderne außer Kraft. Alle Menschen sind nämlich, wie es im Text heißt, „zu einer Familie“ geworden.4 Das „allgemeine Unglück“5 ist so in der Lage, die herrschende Ordnung des Sozialen, die gerade durch Konkurrenz, Missgunst und Neid gekennzeichnet ist, in die soziale Utopie des ursprünglichen Sozialverbandes zu verwandeln. Erst diese Ereignisqualität des Außergewöhnlichen macht den Zusammenbruch der alten Ordnung plausibel. Die Transformation einer Ordnung erfolgt aufgrund eines außergewöhnlichen Ereignisses, das in der Form, in der es im Text in Szene gesetzt wird, weder erwart- noch vorhersehbar gewesen ist. Es ist interessant, dass im Grunde die Appelle an Solidarität, an das nachbarschaftliche Miteinander, die wir derzeit von allen Seiten vernehmen, die sozialen Mechanismen des ursprünglichen Sozialverbands wieder hervorrufen sollen. Es sind aber genau jene sozialen Mechanismen, die eigentlich der ‚normalen‘ Ordnung von Gesellschaft widersprechen: Leistung wird zur Hingabe und Konkurrenz zum Miteinander. Man sieht: In der Not frisst selbst der Teufel des Neoliberalismus sozialistische Fliegen.

Die Immunologie teilt mit dem Risikomanagement die Lust an der Zukunft.6 In der reichhaltigen Literaturgeschichte von Epidemien und Pandemien findet sich ein gemeinsames Thema: Das Resultat einer einbrechenden Epidemie ist die Auflösung sozialer und politischer Normen, auch Ausnahmezustand genannt.7 Die Auflösung führt dann in eine bessere oder in eine schlechtere Zukunft, jedenfalls in eine Zeit, die sich von der erzählten Vergangenheit und Gegenwart unterscheidet. Durch Pan- oder Epidemien, so kann man die Texte von Thukydides, Defoe, über Manzoni und Mann bis hin zu Camus zusammenfassen, gerät die soziale Ordnung in Bewegung. Sie wird, wie z. B. in Daniel Defoes „Journal of the Plague Year” aus dem Jahre 1723, gänzlich neu vermessen. Die „Zunahme in den Sterblichkeitsregistern“8 führt bei Defoe zu einer vollkommenen neuen Vermessung des Sozialen durch Versicherungsmathematik und -statistik.

Aber auch die individuelle Ordnung des Lebens wird volatil. Thomas Mann zeigt in beispielhafter Weise, dass die Immunität des Künstlers, die bürgerliche Schutzmechanismen von Bildung und Beherrschung, Dienst und Dauer, Leistung und Lustverzicht versprechen, vorläufig ist. Am Anfang des fünften Kapitels, in dem Gustav von Aschenbach beim „Coiffeur“9 sitzt, hört er vom „Übel“10, das sich für den Protagonisten zunächst im Medium der Sinne ankündigt. Aschenbach wittert ein „eigentümliches Arom“11, sieht „[a]n den Straßenecken haftende Anschläge“12. Das Corona-Virus riecht man nicht, man sieht aber die Schilder, die Schließungen, Regelungen und Einschränkungen verkünden.

Zum Ende hin fragt Aschenbach, die Antwort ahnend, aber nicht wissend: „Man desinfiziert Venedig. Warum?“13 Die Antwort gibt der Erzähler ein paar Seiten weiter. „Seit mehreren Jahren schon“, heißt es in der Sprache des Bulletins, „hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt.“14 Die Cholera, die bekanntlich durch ein Bakterium ausgelöst wird, das als Fremdkörper mit dem Antibiotikum ausgelöscht werden kann, wird bei Thomas Mann zum Bild der Heimsuchung einer auf Abwehr und Isolation setzenden bürgerlichen Zivilisation. In der Begegnung mit dem Anderen erscheint die europäische Zivilisation und die bürgerliche Kultur als gefährdet und mit einer schwachen Immunabwehr ausgestattet.

Vielleicht kann Corona uns lehren, dass die Schutzmechanismen unserer Kultur auch verletzlich sind. Immunisierung ist ein Prozess der Aneignung. Das Ziel der Immunisierung kann dann aber nicht lauten, indolent zu werden.

References

  1. Vgl. dazu Niklas Luhmann 1991: Soziologie des Risikos, Berlin, New York.
  2. Vgl. Lucian Hölscher 1998: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/Main.
  3. Johann Peter Eckermann 1836/1999: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung v. Ernst Beutler, München, S. 225.
  4. Heinrich von Kleist 1807/1995: Das Erdbeben von Chili, in: Ders.: Werke und Briefe, hg. v. Siegfrid Streller, Bd. 3: Erzählungen, Gedichte, Anekdoten, Schriften, Anmerkungen von Peter Goldammer, Textrevision v. Anita Golz, Berlin, S. 158–175, hier: S. 167.
  5. Ebd.
  6. Vgl.: Johannes Türk 2009: Die ‚Zukunft‘ der Immunologie. Eine politische Form des 21. Jahrhunderts. In: Claus Pias (Hg.): Abwehr-Modelle-Strategien-Medien. Bielefeld 2009, S. 11-25.
  7. Vgl. z. B. Thukyides 1993: Die Geschichte des Pelopennesischen Krieges. München, S. 258f. Dort heißt es, dass durch die Pest die Polis „gleichgültig gegen Heiliges und Erlaubtes ohne Unterschied“ sei. Zitiert nach: Türk 2009, S. 11.
  8. Daniel Defoe 1723/2018: Die Pest von London. Aus dem Englischen von Heinrich Steinitzer. Norderstedt, S. 6.
  9. Thomas Mann 1913/1960: Der Tod in Venedig. In: T.M.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. VIII: Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Frankfurt/M., S. 444-526, hier S. 499.
  10. Ebd.
  11. Ebd.
  12. Ebd.
  13. Ebd., S. 509.
  14. Ebd., S. 512.

SUGGESTED CITATION: Steinmayr, Markus: Risiken und Immunisierung. Pandemien der Literatur, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/risiken-und-immunisierung/], 20.04.2020

DOI: https://doi.org/10.17185/kwi-blog/20200420-0900

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